Kommmentar für Plastische Chirurgie11.03.2009
Was wird uns Chirurgen und Plastischen Chirurgen nicht alles aufgetischt ? Brustzentren, Netzwerke, Kompetenz-Zentren für Adipositas- und metabolische Chirurgie, und das alles zertifizier und qualitätsgemanaged (siehe November/Dezember Ausgabe 2008 der CHAZ aus dem Kaden-Verlag). Je kühner die Wortschöpfungen desto ausladender die zugehörigen Algorithmen zur Erlangung des Heils. Auch wenn es dem Zeitgeist entspricht, kann solche Botschaft nicht unkommentiert bleiben: Veranschaulicht man sich das Wesen eines Brustzentrums, so erkennt man die gleichen Strukturen, die seit Beginn der modernen Medizin ein Krankenhaus zu dem machen, was es ist, eine Organisation von unterschiedlichen Fachbereichen unter einem Dach. Ähnliches gilt für „Netzwerke“. Jeder verantwortliche Arzt arbeitet in einem Netzwerk mit anderen Fachkollegen. Nun braucht es dazu neuerdings eines Zertifikates, vergleichbar dem Segen der alleinseligmachenden Kirche. Selbstverständlich braucht die interdisziplinäre Zusammenarbeit eine Organisation. Idealerweise entsteht diese jedoch innerhalb flexibler Struktur im Zuge des Zusammenwirkens der Beteiligten automatisch und entwickelt sich täglich fort, nicht im dreijährigen Turnus . Man bezeichnet das als Synergetik. Die Synergetik ist das zentrale Element zum Verständnis der Organisation komplexer Systeme, mithin des Lebens. Das Aufoktroyieren fremder Strukturen auf synergetische Organisationsformen führt zum Systemversagen. Die griechische Mythologie beschreibt solche Bestrebungen mit dem Bild vom Bett des Prokrustes, und damit ist das Überstülpen bürokratische Regelwerke über natürliche Systeme gemeint. Als hätte die Ausübung der Medizin nicht bereits unter solchem Widersinn zu leiden. Vorauseilender Gehorsam gegenüber den Gesundheitsideologen und dem sie ungebenden Tross an „Parasiten“ ist unangebracht.
Das Neue am zertifizierten Brustzentrum mit seinen Leitlinien und Algorithmen besteht vielleicht darin, dass die Beteiligten, Patienten wie Ärzte, weit mehr dem Regime entfernter Statistiker und Qualitätsmanager unterworfen sind als der Expertise des einzelnen Arztes als Spiritus rector im herkömmlichen Medizinbetrieb. Aus dieser Funktion wird der Arzt in der Staatsmedizin zunehmend verdrängt. Seinen Status haben „Halbgötter“ anderer Couleur längst usurpiert. Es heißt in deren Sprachgebrauch auch nicht mehr „Arzt“ sondern „Leistungserbringer“. Als Knechte der neuen Herren, der Bewahrer der evidenzbasierten Asche – nicht des Feuers, liefern sie Daten als Opfersteuer, mit denen jene ihre fragwürdige Majestät nähren. In solchen Organisationen geraten neue wissenschaftlichen Erkenntnisse der Grundlagenforschung zwangsläufig in die Warteschleife oder fallen übermächtigen Algorithmen zum Opfer. Als Erfolgsnachweis wird sodann jährlich das statistische Überleben verkündet, begleitet vom Weihrauch der Sponsoren klinischer Studien. Der Beweis steht noch aus, dass es bei „Brustzentren“ und „Netzwerken“ der neuen Art um besseren Behandlungsoptionen geht und so könnte man meinen, es verberge sich mehr eine versteckte Form der Werbung dahinter. Nur ergibt Werbung für ein unterfinanziertes, defizitäres Geschäftsmodell keinen Sinn. Es bleibt also die Frage, was wird hier wirklich zu Markte getragen? Werbung in eigener Sache, nicht für die Sache. Das „Who is Who“ Prinzip : Man kauft für teures Geld den tausendseitigen Foliant, nur um sich selbst darin wiederzufinden. Geradezu grotesk erscheint der Begriff „Brustzentrum“, wenn einzelne Teilnehmer durch die Republik reisen und ihre Kunst in verschiedenen Lokalitäten ausüben, weil sich z. B. der gynäkologische Platzhirsch eines Hauses zwar erfolgreich gegen die Konkurrenz durch einen Plastischen Chirurgen wehrt und dennoch der Eitelkeit frönen möchte, ein „Brustzentrum“ mit mikrochirurgischen Methoden sein Eigen zu nennen, ein „Brunstzentrum“ so zu sagen. Also benötigt er einen „fliegende Operateur“ und findet ihn gerade deshalb, weil sich andernorts die Einsicht vom defizitären Charakter solcher Unternehmungen bereits niedergeschlagen hat. Damit ist alles zum Thema gesagt. In der Adipositas-Chirurgie will man offensichtlich solche barocken Auswüchse nicht in dieser Deutlichkeit zu Tage treten lassen. Daher sollen wohl die Kriterien für Adipositas-Chirurgie-Zentren von Seiten der bereits etablierten eng gefasst werden, beispielsweise das Erfordernis spezieller Einrichtungsgegenstände. Zu solchermaßen konkreter Materie wie dem OP-Tisch mit 250 kg Tragfähigkeit gesellt sich dann noch das Abstrakte: die „metabolische Chirurgie“. Welch eine treffende Bezeichnung! Es klingt wie Biochemie im Tonnenmaßstab, ist es aber nicht. Unter Metabolismus versteht man die enzymatische Umwandlung organischer Stoffe, also Vorgänge im Sub-Nanobereich und mithin unzugänglich für chirurgische Methoden. „Metabolische Chirurgie“ ist daher ein Paradoxon wie das „Kuckucksnest“, über das wir da wohl gerade fliegen. Die Realität der Adipositas-Chirurgie ist eine andere: nämlich Bestrafung der Unschuldigen, wie es schon Menemius Agrippa 494 v. Chr. den Plebejern von Rom darlegte. Magen und Dünndarm müssen herhalten, obwohl sie bei dem zu beklagenden Zustand nur höchst mittelbar beteiligt sind. Streng genommen handelt es sich bei der Adipositas-Chirurgie um Eingriffe am falschen Organ. Daran ändern auch die wissenschaftlichen Begleituntersuchungen zu den metabolischen Folgen und die Entdeckung immer neuer Enterohormone nichts. Sie unterstreichen nur den experimentellen Charakter der Maßnahmen und vermitteln den Eindruck, dass Operationen zur Einschränkung der Nahrungsaufnahme bei Adipösen komplizierte Unternehmungen seien. Doch die kürzeste bekannte Kausalkette bei der Adipositas – in der Landwirtschaft als Mast, in der Physik als erster Hauptsatz der Thermodynamik bekannt – ist bereits lang genug, um an anderer Stelle zu intervenieren oder auch nicht….
Es bleibt die Frage: ist die Adipositas-Chirurgie wirklich eine Aufgabe der Chirurgie oder gar ein gesellschaftliches Bedürfnis, bzw. ist eine flächendeckende Etablierung von Adipositas-Chirurgie-Zentren erforderlich? Die Adipositas-Chirurgie ist wohl eher Tribut an die unantastbare Selbstbestimmung des Patienten ohne Rücksichtnahme auf andere Rechtsgüter. Aber auch daran kommen Zweifel auf, wenn man das für die Adipositas-Chirurgie – oder spitzer formuliert – für die „metabolische Chirurgie“ von der Industrie eigens geschaffene Instrumentarium überblickt. Danach handelt es sich wohl eher um einen Selbstläufer : im Vertrauen auf die Adipositas-Chirurgie können die Dicken dicker werden. Da werden sie geholfen. Das Prinzip der Selbstverschuldung weicht dem der Verpflichtung zur Hilfeleistung mit entsprechender Umkehrung der legalen Konsequenzen im Falle der Unterlassung. (Hat man insbesondere uns Plastischen Chirurgen das nicht erst kürzlich umgekehrt eingebläut?) Stellen wir jetzt besser nicht die Frage nach den absehbaren Folgebehandlungen. Damit sind nicht etwa Dermolipektomien bzw. „body lifts“ gemeint. Nein, es sind lebenslang überwachungs- und substitutionsbedürftige Mangelerkrankungen und Reoperationen. Dennoch, die Rechenknechte haben auch hier schon mal kalkuliert und volkswirtschaftliche Einsparung in Milliarden-Höhe prognostiziert. Milch- oder Mischkalkulation? Das ist hier die Frage .Wenn es denn tatsächlich so lohnend ist, ergibt sich daraus eine wirklich positive Perspektive: wir müssen uns nicht mehr um die Unterfinanzierung der Brustzentren grämen.
Dr. med. Johannes Reinmüller Chirurg, Plastischer Chirurg