Patientensicherheit: Try an Accident

Johannes Reinmüller
Wiesbaden im April 2019

Geld oder Leben
Die französische Gesundheitsbehörde ansm hat im Dezember 2018 die für texturierte Silikonimplantate mit Handelsname Biocell des Herstellers Allergan erteilte europäische Zertifizierung (CE) nicht verlängert. Die Entscheidung wurde im Folgenden begründet mit einem vermuteten Zusammenhang dieser Implantate mit der Entstehung eines aggressiven malignen Lymphoms (breast implant associated anaplastic large cell lymphoma BIA-ALCL). Am 4. April 2019 wurden seitens der Behörde aus dem gleichen Grund der Vertrieb und die Verwendung weitere texturierter Silikon-Implantate und von Implantaten mit Polyurethan-Schaum (PU) Beschichtung untersagt. Eine Empfehlung zur Entfernung bereits implantierter Prothesen sprach die Behörde nicht aus.
Nach Auffassung der deutschen Behörde, BfArM, handelt es sich dabei um einen Alleingang der Franzosen. Bisher hat sich das BfArM deren Meinung nicht angeschlossen.
Was bedeutet diese Entwicklung für die Sicherheit betroffener Frauen, die in der Vergangenheit Implantate der jetzt gebannten Typen erhalten haben? Ist es nicht inkonsequent, texturierte Implantate wegen eventuell lebensbedrohlicher Konsequenzen zu verbieten und gleichzeitig die Trägerinnen solcher Implantate nicht zum Implantatwechsel aufzufordern?
Dr.Oppikofer, Genf, Mitglied des Arbeitskreises für Patientensicherheit der ISAPS, hat in seinem Artikel in ISAPS News vol.13, No. 1, zum Thema „Patientensicherheit“ (Patient Safety) einen Leitsatz aus der Luftfahrtindustrie aufgegriffen: “ If you think safety is expensive – try an accident”.
Die Gültigkeit dieser Sentenz wurde uns gerade drastisch mit dem Absturz von zwei neuen Flugzeugen des Typs Boeing 737 MAX vor Augen geführt. Inzwischen mehren sich die Kommentare, die die Lufthoheit des Business bei Boeing über kostenintensive Sicherheitstechnik als wahren Hintergrund ansehen.
Die Parallele zu den Herstellern von Medizinprodukten, expressis verbis von Brustimplantaten mit der Luftfahrtindustrie ist unübersehbar. Es bedurfte der Intervention der französischen Aufsichtsbehörde ansm, um ein Verkaufsverbot für texturierte Mamma-Implantate in Frankreich herbeizuführen, so als hätten die Verantwortlichen in der Silikonindustrie seit 2011 nie etwas von BIA-ALCL gehört.

Üppige Apanagen für unabhängige Experten
Gerade der Marktführer Allergan sponserte in der Vergangenheit zahlreiche „Experten“ auf diesem Gebiet. Der opinion leader Dr. Clemens vom MD Anderson erhielt in den vergangenen Jahren ca. 500.000 US$. Wofür eigentlich? Aufwandsentschädigung, wie er es selbst bezeichnet, deshalb sieht er sich frei von Interessenskonflikten. Mit dieser üppigen Apanage kann man 10 Mal um den Globus jetten, selbstverständlich First Class. Vermutlich deshalb antwortet er mir nicht auf meine zahlreichen mails mit kritische Einwände zum Thema.

Was hat sich Allergan also damit erkauft? Wohlverhalten, inklusive pseudowissenschaftlicher Untersuchungen mit der Vorgabe, die Erforschung der Ursachen des BIA-ALCL voranzubringen? An den wahren Ursachen, sofern im Material bzw. im Herstellungsprozess begründet, ist man womöglich nicht wirklich interessiert. Dr. Clemens trat dann auch noch als unabhängiger Experte beim hearing der FDA am 25. März 2019 auf. Wir warten geduldig auf die Entscheidungen der US-Behörde, so wie ich seit 2016 noch immer auf eine Antwort des zuständigen Abteilungsleiters der FDA, Binita Ashar, auf eine Meldung zu unbekannten Einschlüssen im Innern von Silikonimplantaten des Herstellers Allergan warte.

Die Kunst der folgenlosen Entschlossenheit
Im Gegensatz zu der französischen Behörde üben sich die deutschen Gesundheitsbehörden in Zurückhaltung. Sie tragen zumindest Bedenken gegenüber der französischen Entscheidung und sind damit auf Augenhöhe mit den Fachgesellschaften der Plastischen Chirurgen weltweit. Man könnte meinen, dies geschehe aus Rücksicht auf die betroffenen Frauen: Wie sag ich´s meinem Kinde? Deshalb keine vorschnellen Äußerungen und Maßnahmen, welche Patienten verunsichern könnten. Salus aegrotii suprema lex, das verstehen alle. Doch fragt man nach den Nutznießern dieses zögerlichen Verhaltens, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass insbesondere die Hersteller, vertreten durch Lobbyisten, die Krankenkassen, verflochten mit dem Gesundheitsministerium, und nicht zuletzt auch die „Leistungserbringer“, vertreten durch Berufsverbände, geschont werden sollen. Alle profitierten vom status quo und sind offensichtlich daher wenig geneigt, den bestehenden Konsens aufzukündigen: „Der größte Feind der neuen Ordnung ist, wer aus der alten seine Vorteile zieht.“ (Niccolò Machiavelli).
Patientensicherheit erfordert ein anderes Denken bzw. andere Entscheidungen, nämlich die Empfehlung, die unsicheren Implantate bei allen Betroffenen zu entfernen bzw. auszutauschen gegen sichere Implantate. Vermutlich ein kostenintensives Unterfangen für die Krankenkassen, denn die Indikation beinhaltet medizinische Notwendigkeit. „Try an accident“, einfach durch Verzicht auf aktives Handeln, ist die weitaus kostengünstigere Variante. Davon sind zahlenmäßig wenige Einzelschicksale betroffen, und das ist kaum belastend für Krankenkassen bzw. für die Sozialsysteme. Das zumindest kann den verschiedenen Stellungnahmen entnommen werden, die sich um nüchterne und logische Betrachtungsweisen herumwinden, indem sie zur Rechtfertigung ständig die Ebenen der Diskussion wechseln.
In diesem Sinne äußert sich der Gesundheitsminister. Das BfArM verschanzt sich mit Hinweisen auf die Verlautbarungen der andern Beteiligten zum Thema. Der derzeitige ISAPS Präsident, Dr. Richter, verkündet den Verlustschmerz und glättet die Wogen mit der klassischen Ausrede So machen´s alle. Unter Hinweis auf ein Mehrheitsvotum über die guten Seiten der gebannten Implantat-Typen findet er zu einer erstaunlich einfachen Lösung des Problems: Brentuximab und alles wird gut. Die jüngste Information der DGPRAEC vom 05.April 2019 übt sich hingegen noch in Neutralität. Man fragt sich: War´s das schon, oder stimmt man (sich) noch ab?

Wenn sich alle Experten einig sind, ist Vorsicht geboten
Die aufgeführten Stellungnahmen täuschen darüber hinweg. dass es sich bei BIA-ALCL um eine lebensgefährdende Erkrankung handelt, deren Auftreten im Zusammenhang mit texturierten Implantaten aufgrund der vorliegenden Kasuistik nicht ernsthaft bestritten werden kann. Das
Argument, die Entstehung sei ursächlich nicht bekannt (Jens Spahn lt. DÄB), ist in dieser Diskussion aus wissenschaftlicher Sicht irrelevant. In diesem Zusammenhang wäre die Frage an den Minister zu richten: Was wird denn zur Klärung der Ursachen von ministerieller Seite unternommen? Hier die von mir telepathisch vorweggenommene Antwort: Wir haben ein Implantatregister auf den Weg gebracht. Als hätte das irgendetwas mit der Abwehr bedrohlicher Entwicklungen durch bereits eingesetzte texturierte Implantate zu tun, insbesondere unter Berücksichtigung der jahrelangen Latenz bis zum Auftreten der Erkrankung und der weiterhin steigenden Fallzahlen. Da passt das Zitat von Georg Danzer: „Zwickt´s mi, I glaub I tram“ und weiter nach dem „Watschen geben“ „Danke, jetzt ist mir klar, es ist wahr“.
Ebenso irrelevant für Patientinnen ist die Aufzählung zweifelhafter Vorteile der texturierten Implantate in Bezug auf das Risiko, an einem Lymphosarkom zu erkranken, ein weiteres Beispiel für die Verwechslung der Diskussionsebenen durch selbsternannte „Experten“. Wenn sich alle Experten einig sind, ist Vorsicht geboten (Bertrand Russell).

Déjà vu
Das ist alles nicht neu. Gehen wir zurück zum PIP-Skandal 2010. Ursprünglich wurde unterstellt, dass die Implantate dieses Herstellers übermäßig häufig Rupturen aufwiesen. Nach Intervention der Behörden wurde die Verwendung von nicht zertifiziertem Silikon bei der Herstellung festgestellt. Das wiederum führte zu der Vermutung, die Implantate könnten toxische Chemikalien enthalten. Die wahren Leidtragenden waren in der Folge – wie immer – Unschuldige, nämlich Kaninchen, denen man ohne jedes wissenschaftliches Konzept das verdächtige Silikon in die Haut injizierte. 2012 stellte die Europäische Behörde SCENIHR fest, dass PIP Implantate – soweit im Lager der Firma vorgefunden – keine Toxine enthielten. Zu keinem Zeitpunkt wurde eine lebensbedrohliche Situation für Patienten festgestellt. Und die Konsequenzen damals?
Die Kommentare und Empfehlungen der Behörden und Verbände waren die gleichen wie heute. Sie wiederholen sich im Falle der texturierten Implantate und BIA-ALCL, als hätte man es noch immer mit dem alten PIP Skandal zu tun. Die Dimension der Bedrohung ist allerdings eine andere. Doch kaum einer scheint das bemerkt zu haben. Oder?
Die jetzige Situation ist eher vergleichbar mit der Affäre um die Toxin-Bildung in Sojaöl- gefüllten Trilucent-Implantate während der 90iger Jahre. In diesem Falle waren die Aufsichtsbehörden kurz angebunden. Alle Implantate wurden ausnahmslos entfernt. Die Kosten trug der damals weiterhin solvente Hersteller. Der Hersteller der PIP-Implantate wurde im Zuge der Affäre insolvent. Obgleich man auch bei PIP-Implantaten ursprünglich von Toxin-Freisetzung ausging, entschieden sich die Behörden fürs Abwarten. Im Falle der jetzigen Affäre um die texturierten Implantate ist es offenbar zweifelhaft, in wie weit ein Zugriff auf das Vermögen der jetzt involvierten Hersteller möglich ist. So wird verständlich, weshalb die Entscheidung der Behörden im Sinne von Abwarten getroffen wurde.

Das häufige ist häufig …
Die wahre Dimension der gegenwärtigen Erkenntnisse bezüglich des Zusammenhangs zwischen texturierten Implantaten und BIA-ALCL lässt sich mit einer Frage aufzeigen: Was muss man einer betroffenen Patientin antworten, die das Auftreten eines BIA-ALCL und dessen Folgen sicher ausschließen will? 1) Intensivierte Beratung, 2) Ultraschall alle Jahre wieder, 3) Implantatentfernung mit Kapsulektomie.
Eine Zusatzfrage – an die Behörden und den zuständigen Minister – könnte lauten: Was ist zu unternehmen, um mit Sicherheit weitere Todesfälle infolge von BIA-ALCL auszuschließen? Man denke dabei an die rigorosen Maßnahmen und Argumente sowie an die neuere abgehobene Rechtsprechung zur Verhinderung von tödlichen Unfällen im Straßenverkehr oder zur Reduktion der Zahl der hochgerechneten Feinstaub-Opfer. „Ich nenn die Zahl und ich die Qual …“ (Fontane 1879 „Die Brück´ am Tay“). In allen genannten Bereichen geht es nicht etwa um die Kommastellen einer Statistik sondern um absolute Zahlen. Jedes einzelne Schicksal zählt. „Statistisch selten“ wird als Argument nicht zugelassen, anders bei texturierten Implantaten und BIA-ALCL.

Erkaufte Sicherheit?
Von der finanziellen Betrachtung abgesehen sind Empfehlungen der Lösung 3) oben in mindestens zwei Aspekten auch kritisch zu hinterfragen:
Es ist unterstellt, dass der Eingriff zur Implantatentfernung regelmäßig nicht tödlich verläuft. Genau das wird voraussichtlich von offizieller Seite entgegengehalten werden. Das Argument kann nicht mit einer statistischen Analyse belegt werden. Verwertbare Beobachtungen und Studien sind nicht hinterlegt.
Fraglich ist dabei auch das Ausmaß, in dem für die gefährdeten Frauen Sicherheit „erkauft“ werden kann. Genügt zur Prophylaxe die einfache Implantatentfernung bzw. der Implantatwechsel, oder ist immer die vollständige Kapsulektomie mit einzuschließen? Dies muss wiederum unter dem Gesichtspunkt der Radikalität der Kapsulektomie gesehen werden, und die ist in den meisten Fällen bei Lage des texturierten Implantates auf dem Periost der Rippen nicht gewährleistet.
Zur Diskussion steht noch der Zeitfaktor, da das Auftreten des BIA-ALCL mit einer Latenz von 6 bis 8 Jahren nach Erstimplantation einhergeht. Damit könnte sich für die Implantatentfernung, hilfsweise für den Implantatwechsel zu glatten Implantaten, im Einzelfall für Betroffene ein größeres Zeitfenster öffnen.

Bei Versagen Geld zurück
Im Resultat ist festzuhalten: Empfehlungen wie intensivierte Aufklärung und Beratung oder „Ultraschall“ (als IGEL-Leistung) können nur als kostengünstige politische Ausflüchte verstanden werden. Sie schützen die Sozialsysteme vor hohen Kosten und die Hersteller vor Regressen, wenn dies nicht bereits die Unternehmensstruktur und der Standort (z.B. für Allergan Costa Rica) gewährleistet. Die bisherigen Verlautbarungen in der Sache kommen somit denen zugute, die im bestehenden System prosperieren, nicht zuletzt die mit ihrer Hofhaltung an die Gold-Sponsoren angepassten Berufsverbände. Wie bei der Wettervorhersage am Urlaubsort sind sie weiterhin bemüht, eitel Sonnenschein vorherzusagen. Nur keine Panik, keine Demos. Es geht schließlich nicht um irgendeine Statistik zum globalen Klima, sondern um etwas höchst Individuelles: „patient safety“. Dieses Label dient nun bestenfalls noch als Sticker auf dem Überraschungsei der staatlichen Gesundheitsfürsorge. Aus Sicht betroffener Patientinnen ist die Situation vergleichbar mit dem Hinweis des Herstellers einer schusssicheren Weste: Bei Versagen Geld zurück.

Post scriptum: Am 2.Mai 2019 hat die FDA ihre Stellungnahme veröffentlicht. Es bleibt alles beim Alten, wie das Kölsche Grundgesetz: §1Et es wie et es! §2: Et kütt wie et kütt! §3: Et hät noch immer jot jejange!

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