König Werner und Die Insel der Glückseligen

Die Gerichtsakte XY liegt vor mir auf dem Schreibtisch. Ich bin zum Gutachter bestellt worden, weil Sculptra , vormals New Fill, bei Frau F. (51) sechs Monate nach der Anwendung hässliche, sichtbare Granulome im Gesicht erzeugt hatte. Der Arzt, ein Plastischer Chirurg, hätte das wissen und bei der Aufklärung erwähnen müssen, sagt der Klagevertreter. Also lautet der gerichtliche Beweisbeschluss : War es zum Zeitpunkt der Anwendung in Fachkreisen bekannt, dass New Fill solches bewirkt ?
Ich frage mich, was sind Fachkreise und befinde mich bereits mitten in einer Erkenntniskrise. Wer spritzt nicht alles irgendwelches Zeug irgendwo hin? Gibt es höhere Weihen, die die Mitgliedschaft im Fachkreis ausmachen? Die Facharztbezeichnung Plastischer Chirurg könnte so etwas sein. Halt, da gibt es auch ausschließlich rekonstruktiv tätige Kollegen. Wohin mit diesen, wohin mit dem HNO, dem Dermatologen oder gar dem nicht fachärztlichen Kollegen, der sich gerade mal so durchIGELt? Ich beschließe, den Fachkreis so zu definieren, dass ein jeder, der sich zur Durchführung der hier streitgegenständlichen Handlung berufen fühlt, dem Fachkreis zuzurechnen ist. Also zählt der Beklagte zweifellos zum Fachkreis.
Wie kommt ein solches Mitglied des Fachkreises an die notwendigen Informationen, um im Behandlungsfall erfolgreich zu sein und Schaden von seinem Patienten zu wenden? Der Beklagte im Fall XY verweist zurecht auf die Angaben im Beipackzettel, denn diese sind bei CE-zertifizierten Produkten sozusagen amtlich.

Im Beipackzettel für New Fill aus dem Jahre 2002 – damals fand die Behandlung statt – liest man, dass nach Anwendung in seltenen Fällen nicht sichtbare Knötchen auftreten können. Darüber wurde unbestritten aufgeklärt. Nur hier kam es leider anders. Es genügt also nicht, nur den Beipackzettel zu lesen. Das Mitglied des Fachkreises muss sich anderweitig fortbilden. Dann erfährt er, was nicht im Beipackzettel steht. Es sieht  also schlecht aus für den Beklagten.
Denn so lautet ein Beschluss, dass der Mensch was lernen muss. Nur wie und wo ist die Frage?  Für Ärzte nach der Weiterbildungszeit ist das nicht so streng festgelegt. Die Fachliteratur leidet unter einem Phänomen, welches als „publication bias“ bekannt ist. Es werden oft nur die schönen Dinge des Lebens beschrieben. Außerdem sind Publikationen bei Erscheinen manchmal schon überholt. Brandneues gibt’s nur auf Kongressen, und es winken zudem Fortbildungspunkte.
So fahre ich selbst – noch nicht ganz reif für die Insel –  zum 1. Internationalen Kongress für Ästhetische Chirurgie und Kosmetische Zahnmedizin zu eben jener von Lindau am Bodensee. Der Kongress wird ausgerichtet vom Präsidenten der Internationalen Gesellschaft für Ästhetische Medizin (IGÄM ), Professor Werner Mang.

„Prof.Mang, Deutschlands berühmtester Schönheitschirurg packt aus“, so prangte es von der Titelseite der REVUE. Welch ein Superlativ ! „König Werner“, denke ich, und F.K.Waechter (1) kommt mir in den Sinn: „Welch ein erhabener Anblick, der König der Eichhörnchen wechselt den Baum“.

Freitag Abend komme ich in Lindau  auf der Insel an und  stoße gleich auf die Mang Galerie. Die muss ich mir – kunstbeflissen – ansehen. Zuerst muss ich den Türsteher überzeugen, dass ich zum Kongress gehöre. Drinnen fühle ich mich leicht verunsichert, umgeben von primären Geschlechtsorganen, gemalt in schlichter Technik, nicht wirklich plastisch oder ästhetisch.  Prof. Mang jetzt auch gynäkologisch und urologisch engagiert? Nein , das scheint mir abwegig.  Geschlechtsumwandlungen in der Bodenseeklinik ? Das wäre mir neu.
Am Samstag Morgen, in der Inselhalle in Lindau, atme ich die Luft einer internationalen Veranstaltung .Es kann nicht anders sei. Das große I in IGÄM steht auch für Ivo, für Professor Ivo Pitanguy aus Rio de Janeiro, Gedankenfreund des Prof. Mang, auch  ein König unter den Schönheitschirurgen und Inselbesitzer, insofern kongenial. Da nimmt man sich gerne die Zeit für die Retrospektive über 50 Jahre Brustchirurgie am Zuckerhut, upgedatet aufs Jahr 2005. Am Ende Blitzlichtgewitter (REVUE?) und standing ovations. Die Szene ist nicht mehr steigerungsfähig.
Zurück in der Gegenwart muss sich das Auditorium im Thema „Injizierbare Implantate/Neue Materialien zur Faltenbehandlung“   einfinden. Fortbildung ist jetzt angesagt. Der Tagungspräsident selbst kommt  zur Sache: “Klinische Vergleichsstudie an 20 (in Worten: zwanzig) Patienten zwischen Viscontour, Sculptra, Hydrafill, Belotero und Puragen im Hinblick auf folgende Parameter: Haltbarkeit, Nebenwirkungen, Reinheitsgrad und Galenik (Spritzbarkeit)“. Man muss es zweimal lesen. Mehr Konfusion bringt man kaum unter in sechs Zeilen des Programmheftes. Eine Vergleichsstudie also, mit Sculptra et al, zwanzig Studienteilnehmer. Da bin ich ja richtig.
Stille Einfalt, wahre Größe. Ich arbeite mich mühsam durch die einzige Powerpoint-Tabelle: ein Kreuzchen für „mangelhaft“, zwei für „befriedigend“, drei für „sehr gut“. Am Ende wird alles addiert und jeder kann es sehen und hören, Sculptra ist topp in den Charts,  … keine Granulome, … keine Hektik, ….keine Kompromisse, …kein anderes Bier.  Mich befallen Zweifel bezüglich meiner Begutachtung.  Mea sculptra ,mea sculptra…….Um mich herum sitzen sie, die fortbildungswilligen Mitglieder des Fachkreises, und auf dem Podium steht die medienbewährte Allegorie des hypokratischen Eides, und dann diese Offenbarung. Salus aegroti, ohne wenn und aber.
Ich staune noch, dass die Lehre aus der Studie mit dem komplexen Titel auf eine einzige Folie passt und suche das Studiendesign. Doch wen stört es schon in Anbetracht der Klarheit des Resultates, dass die kristalline Poly-L-Milchsäure Sculptra überhaupt nicht mit der unvernetzte Hyaluronsäure  Viscontour vergleichbar ist. Auch die fehlerhafte Spezifikation der Produkte Belotero und Puragen hätte die wissenschaftliche Gemeinde kalt lassen können, wenn da nicht wieder einer aufgestanden wäre und herumgemäkelt hätte. Nein, keiner der ernst zunehmenden Statistikfreaks. Die hatten längst mit Diagnoseschlüssel R 10.4 (nicht näher bezeichnete Bauchschmerzen) in Verbindung mit R 11 (unstillbares Erbrechen) den Saal verlassen. Ein Besserwisser mischt die Anwesenden im Saal auf und will alles anders haben, nämlich international, wie im Programm angekündigt, oder wenigstens wissenschaftlich vertretbar. Nur kurzfristig, denn man entzieht ihm alsbald das Wort unter Hinweis auf den friedlichen Charakter der Veranstaltung. Man wolle nicht streiten, Frau Dr. Mertz, die im Saal anwesende Assistentin des Prof. Mang, habe alles so recherchiert und eine gewisse Frau Professor Beer aus der Schweiz  habe alles so abgesegnet. Applaus, Applaus! Damit hat der Tagungspräsident das Heft oder besser das Zepter wieder in der Hand.  Die Palastrevolution ist niedergeschlagen. Vorerst kein neuer König. „Wer hat den denn hier reingelassen?“ ist noch zu vernehmen, dann geht es weiter mit eitel Sonnenschein und Glättung von Sorgenfalten, auf der Insel der Glückseligen.
„Der König möchte kegeln“ heißt das bei F.K. Waechter (1).   „ ….Gott sei Dank daneben, ….trotzdem, alle fallen lassen, ….Hurra, alle neune! Es lebe der König. …ja, Kegeln ist eine Kunst, auf die sich nicht viele verstehn.“

Mit dem Schlusswort kommen nochmals versöhnliche Worte über Biochemie und so…  und die Feststellung, Tagungen dieser Art seien wegen des finanziellen Aufwandes nur noch durch Unterstützung sogenannter Sponsoren möglich. Wen wundert´s?  Hofhaltung war zu allen Zeiten kostspielig. Sponsoren sind Donatoren, lateinisch donare heißt schenken.  Da kommen wir der Sache schon näher. „Liquid lifting“ nach Mang , so war es auch offiziell im Programm angekündigt. Aber wer dachte schon an „liquid“ wie Liquidität?  Die Vermehrung unsrer Währung , und nicht etwa die Vermehrung der Belehrung, genießt hier Vorrang. Da trifft mich doch glatt der Schlag. Zum Glück ist heute Abend Charity angesagt für die Schlaganfallhilfe e.V.
Ich denke an mein Gutachten: Es kreißten die Fachkreise und gebaren eine lächerliche Maus, genauer gesagt eine Nacktmaus. Damit kann nun weiß Gott auch kein Haar mehr in die Suppe der Sponsoren fallen. Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und stellen Sie bitte hier keine dummen Fragen.
Dafür gibt es nun 10 (in Worten: zehn) Fortbildungspunkte von der Bayerischen Ärztekammer….. Streng genommen müsste man sie mir  nach diesem blutigen Inselabenteuer abziehen.
Obgleich mich Autoschlangen sonst total nerven, ist die Rückfahrt im offenen Cabriolet entlang des Bodenseeufers entspannend. Zeit zu Nachdenken mit lauem Wind um die Nase, hinter mir die Insel….
Früher gab es die Inselwitze, fortlaufend nummerierte Cartoons. Da habe ich wohl gerade die neueste Folge live erlebt.


Literatur: (1) Waechter F.K.: Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein, Diogenes Verlag 1978

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